Caroline Hartge

LYRIKERIN, ÜBERSETZERIN, HERAUSGEBERIN

Der Landvermesser

Prosa

in:
Gerhard Hauptmeier / Reimer Wittmann (Hrsg.)
Marburger Literatur Almanach 1996

Der Landvermesser [Auszug]

Es war ein bedeckter Tag zwischen zwei verschiedenen Jahren und Lisette war auf die andere Seite des Waisenhausparks zu ihrem Freund Ruprecht gegangen, der in der Gebrauchtwarenbranche tätig war. Ruprecht wohnte und arbeitete in einem unscheinbaren Holzhaus schräg gegenüber von der Kirche der chinesischen Baptisten. Mit Erlaubnis des Bezirksrats hatte er in den Fußweg vor seinem Haus zwei ansehnliche Löcher gehackt, aus denen nun schon seit geraumer Zeit zwei jugendliche Platanen sprossen, deren verliebt turtelndes Blättergeraschel die fühlsameren unter den Passanten betört aufhorchen und innehalten ließ, besonders natürlich im Mai.

Ruprecht wußte den vermehrten Andrang der Laufkundschaft um diese Jahreszeit sehr zu schätzen; ein begrüßenswerter Nebeneffekt seiner ererbten Dendrophilie.

Das Ladenschild mit der schöngemalten Aufschrift 'Ruprechts Rubikon' war unverändert geblieben wie dereinst, als Lisette es zum ersten Mal im Winde hatte schaukeln sehen. An der Tür fielen ihr zwei neue Aufkleber auf: Der eine war auf Chinesisch, der andere war auf apfelgrünem Grund und besagte:

'Dyslexia lures ko!'. Das mittels Schablonendruck fabrizierte Plakat in der Tür, eine vergrößerte Version von Ruprechts Visitenkarte '... The Patsy Cline Institute for the Emotionally Disabled ...', führte Ruprecht nun bereits seit seiner früheren Jugend. Damals war er noch bei den Nonnen von St. Albrecht zur Schule gegangen und war die größte Hoffnung seiner Lehrerinnen gewesen. Anschließend hatte man ihn in der Werkschule der frommen Schwestern das nützliche Handwerk des Stempelschneidens erlernen lassen, um ihm zukünftig einen eigenen Broterwerb zu ermöglichen, aber Rupreht konnte den Geruch von Gummi nicht ertragen und hatte sich als Antiquar selbständig gemacht und niedergelassen.

Auch die mit schwarzem Edding auf die Tür gemalte Aufforderung TRETEN war Lisette nicht neu (auf der Innenseite stand, wie sollte es wohl anders sein, ZERREN. […]

Biblion Verlag
Marburg, 1996
ISBN 3-932331-01-X
www.biblion.de

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