Caroline Hartge

LYRIKERIN, ÜBERSETZERIN, HERAUSGEBERIN

Mono(d)gatari

Essay

in:
Lutz Schulenburg (Hrsg)
Die Aktion 211

Mono(d)gatari [Auszug]

Vom Sehen

Schreiben ist ein einsames Geschäft; eine Freude für geborene Einzelgänger (man kann genauso gut Einsiedler sagen). Aber beim Dichten kommt es darauf an, ständig zwischen der Abgeschiedenheit und der Gemeinschaft hin- und herzuwechseln. Der Akt des Schreibens ist nur das eine, das sichtbare Zehntel der dichterischen Arbeit. Der unter Wasser liegende Teil besteht aus allem anderen, das man tut: Zugfahren, Laub harken, aus dem Fenster gucken. Über kurz oder lang, wenn ich nur meine Augen offen und meinen Geist nüchtern halte, kommt alles Unsichtbare an die Oberfläche herauf: ein Am-Teich-sitzen und darauf warten, daß die Fische sich zeigen. Und dann sie zu fangen versuchen! Eine Zeitlang wohnte ich mit einer befreundeten Philosophiestudentin zusammen. Im Lauf der Jahre entwickelte sie sich von der Studentin zur eigenständigen Gelehrten. Das trug sie nicht wie eine Verkleidung zur Schau, sondern sie hatte es sich ganz und gar zu eigen gemacht; sie war beileibe kein bloßes Zitat, und eindeutig alles andere als eine Poseurin – und sie war meine erste Meisterin. Wir brachten viele Nächte mit Gesprächen zu. Nicht mit Diskussionen, sondern eher, indem wir uns die langen schlaflosen Stunden mit herrlichem Reden vertrieben, beiläufigem Sprechen. Ihre Ausdrucksweise und ihr Denken wiesen zunehmend die Spuren ihrer Auseinandersetzung mit den Lehren Anderer auf; und sie übersah, daß ich – wenn überhaupt – sehr wenig von zeitgenössischer oder überhaupt irgendeiner Philosophie verstand, daß ich ihr ausdauernd zuhörte, ohne eigentlich zu verstehen, wovon sie sprach. Mich bekümmerte das. Es wurmte mich auch, denn ich war es nicht gewöhnt, jemanden sich mühelos in Sphären bewegen zu sehen, in die ich ihm oder ihr nicht ohne weiteres folgen konnte. Als ich ihr das einmal sagte, indem ich frustriert herausplatzte: ah, ich verstehe dich nicht, & ich fürchte, deine Sachen werden mir immer ein Rätsel bleiben – sah sie mich erstaunt an und sagte einfach: Aber wieso? Du hast doch dein eigenes Mittel zur Erkenntnis. Du hast deine Gedichte. […] (PDF)

Edition Nautilus
Hamburg, 2005
ISSN 0516-340X /
ISBN 3-89401-458-X
www.edition-nautilus.de

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